Ein verbessertes Einstufungsverfahren für den Grad der Gefährdung
Rote Listen gibt es im Tier- und Pflanzenbereich sowohl im Naturschutzsektor als auch bei den Nutztieren.
Im Nutztierbereich verwenden verschiedenste Institutionen und Erhaltungsvereinigungen in Deutschland, Europa und der Welt (GEH, BLE, EAAP, FAO, RBST, Arche Austria etc.) ganz unterschiedliche Einstufungsverfahren für die Darstellung der Gefährdung.
Hierbei wird in der Regel entweder mit den absoluten Bestandszahlen oder mit der effektiven Populationsgröße (Ne) gearbeitet, manchmal unter Einbeziehung der Inzuchtverhältnisse, falls bekannt. Daher können bei einer Rasse auch unterschiedliche Ergebnisse bei der Gefährdungseinstufung entstehen, was manchmal zu Verwirrung führen kann. Eine hohe Transparenz bei der Einstufung ist daher besonders wichtig, um die Resultate vergleichen zu können. In Deutschland gibt es zur Zeit zwei Rote Listen für gefährdete Nutztierrassen, die Liste der GEH seit 1986 sowie seit 2008 die Liste der BLE (Bundesanstalt für Ernährung und Landwirtschaft).
Die Rote Liste der GEH
Schon im Jahr 1984 begann die GEH, die „Rote Liste der gefährdeten Nutztierrassen in Deutschland“ zu veröffentlichen. Seitdem entwickelte sich die Rote Liste zu einem wichtigen Instrument der GEH. Die aufgeführten Rassen werden nach bestem Wissen betreut und deren Züchter vernetzt. Aus den Rassen der Roten Liste wird die Rasse des Jahres bestimmt und die Rote Liste stellt auch die Basis für die Anerkennung von Arche-Höfen dar. Sie wird jährlich aktualisiert und veröffentlicht und informiert viele interessierte Menschen über den Status der Gefährdung der Rassen. Für die Aktualisierung der Roten Liste ist der GEH-Beirat zuständig, er stuft die Rassen in der Regel auf Empfehlung des jeweiligen Tierarten-Koordinators entsprechend ein. Einbezogen bei der Entscheidungsfindung werden dabei vielfältige Informationen von Rassebetreuern, dem Informationszentrum Biologische Vielfalt (IBV), von Zuchtverbänden oder sonstigen Kennern der Rasse. Die Rassen auf der Roten Liste werden in Kategorien eingestuft, die ihren Gefährdungsgrad darstellen:
I = extrem gefährdet
II = stark gefährdet
III = gefährdet
Vorwarnstufe
Ausländische Rassen
Die Idee eines verbesserten Einstufungsverfahrens
Die GEH berücksichtigt neben den Bestandszahlen schon immer zusätzliche Risikofaktoren, die den Gefährdungsgrad einer Rasse maßgeblich mit beeinflussen. Faktoren wie die Gesamtanzahl der Züchter bzw. Herden, der Trend in der Anzahl der Zuchttiere, der Reinzuchtgrad, Nachzuchtraten und Generationsintervalle oder auch staatliche Förderungen beeinflussen die tatsächliche Gefährdung einer Rasse und dürfen aus unserer Sicht nicht vernachlässigt werden. Zum Beispiel ist es bei einer Population mit 500 Zuchttieren im Seuchenfall bedeutsam, ob diese in fünfzig Herden, räumlich gut verteilt stehen oder in zehn Herden in einem kleinen Zuchtgebiet. Ein über Jahre stabiler Trend und regelmäßige Nachzucht bei einer Population von 500 Tieren ist weniger bedrohlich als wenn die Bestandszahlen stetig fallen und eine weitere starke Abnahme zu befürchten ist. Auch kann eine zusätzliche Gefährdung entstehen, wenn die Reinzucht durch Einkreuzungen anderer Rassen zur Blutauffrischung oder Leistungssteigerung vernachlässigt wird, ohne dass die dringende Notwendigkeit bei z.B. erkennbaren Inzuchtschäden dazu besteht. All diese Kriterien sollten in einem neu entwickelten Einstufungsverfahren Berücksichtigung finden können und eine Transparenz bei der Einstufung herstellen helfen. Jeder Interessierte soll wissen, warum sich die jeweilige Rasse in der jeweiligen Kategorie – oder auch gar nicht – auf der Roten Liste befindet. Um dies zu entwickeln, setzte der Beirat aus seinen Reihen den GEH-Arbeitskreis „Rote Liste“ ein und begann im Oktober 2008 mit der Diskussion und der Erarbeitung des neuen Verfahrens, das in diversen Workshops und Sitzungen ausführlich diskutiert wurde.
Die Schritte zur neuen Roten Liste
Hierbei wurden verschiedene Schritte bearbeitet. Den Beginn machte eine grundsätzliche Diskussion zum Verständnis einer Roten Liste. Grundsätzlich ist eine Rote Liste ein gutachterliches Instrument für die Darstellung des Gefährdungsstatus. In diesem Sinne sollte die bestehende Rote Liste der GEH überprüft werden mit zusätzlicher Abklärung vieler anderer in- und ausländischer Rassen, die in Deutschland gezüchtet werden. Dabei wurde auch das Kriterium des Alters der Rasse berücksichtigt, da modernere Kombinationskreuzungen (z.B. Uckermärker Rind) für die Kernaufgabe der GEH keine Rolle spielen. Es folgte eine umfangreiche Klärung aktueller Bestandszahlen aller Rassen. Hierbei wurden in der Regel die Herdbuchzahlen berücksichtigt, da Tiere außerhalb von Herdbüchern selten registriert sind und in vielen Fällen Abstammung und Reinrassigkeit nicht lückenlos darstellbar sind. Obwohl diese Tiere in der sog. „Landeshaltung“ ohne Frage wichtig sind und einen wichtigen Genpool für die Gesamtpopulation darstellen, sind doch nur die registrierten Zuchttiere definitiv zählbar. Auch sind in der Regel nur die Zuchtbestände für die wichtige Bereitstellung von gekörten Vatertieren sowie leistungsgeprüften Zuchttieren bedeutsam. Selbstverständlich gibt es nicht bei allen Rassen flächendeckend betreute Zuchtbücher, das heißt, in diesem Fall ist man auf zusätzliche Informationen angewiesen, um den Status beurteilen zu können. Den dritten Schritt machte die Entwicklung einer eigenen, aus unserer Sicht geeigneten Formel für die Einstufung einer möglichst genauen, aber gleichzeitig flexiblen Berechnungsformel für die Kategorisierung aus. Alle bekannten Einstufungsverfahren wurden gegenübergestellt und die Vor- und Nachteile diskutiert.
Die Herangehensweise des Bewertungsverfahrens über die internationale IUCN-Einstufung im Wildbereich, kombiniert mit der bereits in 2002 entwickelten Berechnungsformel, die aktuelle Formel der EVT (Europäische Vereinigung für Tierzucht) und zusätzlicher den Tierarten angepassten Variationen brachte eine weiterentwickelte Lösung einer für den Säugetierbereich anwendbaren GEH-Gefährdungskennzahl (GKZ). Das Geflügel unterscheidet sich in der Zucht von den Säugetieren recht stark, hier muss noch geprüft werden, ob die entwickelte Formel ebenfalls angewendet bzw. angepasst werden kann oder ob mit einem anderen Verfahren gearbeitet werden muss. Hier sollen die endgültigen Resultate im nächsten Jahr erarbeitet werden in Zusammenarbeit mit dem BDRG.
Die Einstufungsformel
Formel der GEH-Gefährdungskennzahl GKZ GKZ = n* x pr x tn x nz x gif Halbierte Klassengrenzen aufgrund |
Am Ende des Entwicklungsprozesses steht nun eine Formel (siehe nebenstehenden Kasten), mit der wir alle bekannten, potentiell bedrohten Rassen im Säugetierbereich berechneten und die der neuen Roten Liste 2012 zugrunde liegt. Erfreulich war, dass bei der Neuberechnung bei den meisten Rassen die bisherige Einstufung bestätigt wurde. Sowohl die vorherigen Berechnungen, das „Gefährdungsgefühl“ der Koordinatoren sowie die neue Formel passten mit nur wenigen kleinen Abweichungen übereinander. In den nächsten Jahren soll die Einstufungsformel weiter erprobt und bei den jährlichen Aktualisierungen der Roten Liste verwendet werden. Die Praxis wird zeigen, inwieweit sich noch sinnvolle Anpassungen ergeben, die Formel also noch verbessert werden kann.
Die Berechnung
Zu Beginn der Formel steht die aktuelle Bestandszahl. Diese Zahl wird durch die nachfolgenden Faktoren, die jeweils verschiedene messbare Risikofaktoren darstellen, bereinigt, in der Regel verringert. Die Berücksichtigung des Generationsintervalls bereinigt diese Kennzahl dann um einen Faktor, der die Gefahr von genetischer Drift bzw. Genverlust mit einbezieht. Das heißt, eine Tierart mit hohem Generationsintervall wie z. B. das Pferd ist bezüglich Genverlust weniger stark gefährdet als eine Tierart, bei der über einen schnellen Generationswechsel auch genetische Veränderungen in der Population schneller vonstattengehen. Beim Pferd setzt dieser Faktor also die Kennzahl weiter herauf, bei Schaf oder Kaninchen weiter herab. Die endgültige Gefährdungskennzahl (GKZ) führt dann in den oben genannten Klassen zur Einstufung in die Gefährdungskategorien. Dies ist aber noch nicht zwingend das Endergebnis: es gibt neben den messbaren Risiken durchaus noch wichtige nicht messbare Faktoren. Dies sind z.B. extrem enge Inzuchtverhältnisse, extrem wenige Vatertiere im Einsatz, sehr geringe Nachzuchtraten, starke Abhängigkeit von Fördermitteln oder mangelhafte Zuchtorganisation (z.B. kein Zuchtverband/Herdbuch). Positiv wirken könnte wiederum aber eine umfangreiche, aktiv nutzbare Spermareserve. Diese Faktoren werden berücksichtigt, indem sie das errechnete Ergebnis in eine Kategorie um eine Stufe verschieben, d.h. herab oder heraufsetzen können. Diese Flexibilität ist notwendig, da nicht nur mess- und rechenbare Faktoren auf den Gefährdungsgrad wirken können und diese Bedingungen nicht zu vernachlässigen sind. Beim „Herauswachsen“ einer Rasse aus den Gefährdungskategorien bleibt die Rasse noch mind. 5 Jahre in der Kategorie „Vorwarnstufe“.
Zwei Berechnungsbeispiele
Thüringer Wald Ziege
Ca. 1050 weibliche Zuchttiere, Reinzucht, stabiler Trend, ca. 100 Herdbuchzuchten, Faktor Generationsintervall Ziege: 0,8 GEH-Gefährdungskennzahl: 1050 x 1 x 1 x 1 x 0,8 = 840 Einstufung in Kategorie II.
Merinolangwollschaf
Ca. 4800 Zuchttiere, Reinzucht, sinkender Trend, nur noch 5 Herdbuchzuchten, Faktor Generationsintervall Schaf: 0,6 GEH-Gefährdungskennzahl: 4800 x 1 x 0,7 x 0,5 x 0,6 = 1008 Dies liegt rechnerisch auf der Grenze zwischen Kategorie III und II. Aufgrund des stark sinkenden Trends und der Absicht weiterer Schäfer, die Zucht in absehbarer Zeit aufzugeben, erfolgt die Einstufung in die höhere Kategorie II.
Diese beiden Berechnungsbeispiele zeigen sehr gut, dass trotz stark unterschiedlicher Bestandszahlen beide Rassen aufgrund unterschiedlicher Risiken in die gleiche Gefährdungskategorie einzustufen sind. Durch die Formel wird also eine vergleichbare Kennzahl ermittelt, die die individuellen Gegebenheiten einer Population recht einfach ermittelt und abbildet. Die jeweiligen Kennzahlen aller Rassen finden sich jeweils bei den Rassekurzbeschreibungen auf unserer Homepage: www.g-e-h.de. Ausländische Rassen Ausländische Rassen können auf die Rote Liste der GEH aufgenommen werden, wenn: • Sie in ihrem Ursprungsland ebenfalls gefährdet sind • Die deutsche Population eine wesentliche Zuchtbasis für die Gesamtpopulation darstellt • möglichst ein gegenseitiger Austausch von Zuchttieren und Abstammungsinformationen stattfindet. Eine enge Zusammenarbeit mit allen beteiligten Erhaltungsorganisationen sollte gegeben sein. Grundsätzlich haben die ausländischen Rassen nicht Priorität für die Arbeit der GEH, mit dem Vollständigkeitsanspruch der Roten Liste sollten sie jedoch zumindest aufgeführt werden und Kontaktpersonen genannt werden. Wie genau ist die Rote Liste Die GEH verfolgt mit ihrer Einstufung gleichermaßen eine hohe Genauigkeit und eine möglichst realistische Abbildung des Gefährdungsstatus der Rassen. Dabei ist zu bedenken, dass die Tierzucht als Teil der Naturwissenschaften nicht statisch oder unveränderlich ist. Natur und Umwelt, die Genetik der Rassen, ihre Züchter und deren Lebensumstände - und damit auch die Rote Liste - sind ständigen Veränderungen unterworden. Sie sind oft nicht exakt messbar, beinhalten unterschiedlich wertbare Aspekte und können so niemals den Anspruch einer Endgültigkeit erreichen. In diesem Sinne wird auch diese Rote Liste, die nach bestem Wissen und Gewissen erstellt wurde, immer weiter entwickelt werden. Jede neue Information und Veränderung wird regelmäßig in die Einstufungen einfließen, um den Rassen so gerecht wie möglich zu werden. Damit stellt die Rote Liste der GEH das Ergebnis eines regelmäßigen Monitorings der gefährdeten Nutztierrassen in Deutschland dar, das deren Situation weitgehend realistisch abbildet.